- Bibelkritik: Der Streit um das »Leben Jesu«
- Bibelkritik: Der Streit um das »Leben Jesu«Im Rahmen des Bibelstudiums fanden seit dem 17. Jahrhundert mehr und mehr aus heutiger Sicht wissenschaftliche Verfahrensweisen Eingang in die Theologie. Um für die Bibelauslegung eine gesicherte Ausgangsbasis zu erhalten, begannen schon philologisch interessierte Humanisten im 14. Jahrhundert, verschiedene Ausgaben der Bibel und die Literatur der Kirchenväter im Sinne der späteren Textkritik zu untersuchen. Die Frage nach dem Originaltext und seinem Autor trat immer mehr in den Vordergrund. Man fragte nach dem Entstehungskontext, erstellte aus alten Handschriften eine Fassung des Urtextes, untersuchte redaktionelle Bearbeitungsstufen und bezog bald auch das kulturelle und historische Umfeld eines biblischen Verfassers in die Beurteilung seines Werkes mit ein. Hierdurch wurde die Vorstellung der Verbalinspiration, dass also die Bibel eine buchstabengetreue Niederschrift göttlicher Offenbarungen sei, zunehmend problematisch. Auf katholischer Seite verbindet sich diese kritische Exegese mit dem französischen Theologen und Gelehrten Richard Simon, der 1678 in seiner »Kritischen Geschichte des Alten Testaments« durch Handschriftenstudien nachweisen konnte, dass Mose nicht der alleinige Verfasser des Pentateuch ist, sondern auf bereits vorliegende Traditionen zurückgegriffen haben muss.Zu diesen Anfängen der Bibelkritik, aus der sich die modernen biblischen Einleitungswissenschaften entwickelten, gehört ein Jahrhundert später der von Lessing publizierte Nachlass des 1768 verstorbenen Orientalisten Hermann Samuel Reimarus, der nach eingehendem Studium der Ostergeschichten die These vertrat, nicht Jesus selbst, sondern seine Jünger hätten die Kirche gegründet. Aber immer noch war die Zeit für eine breite Rezeption dieser Arbeiten nicht reif, auch wenn sich die Schule der Neologen, die den englischen Deismus in Deutschland verbreitete, intensiv mit dieser Bibelforschung in der Tradition der Aufklärung beschäftigte. Den Neologen wurde der moralische Gehalt der biblischen Schriften immer entscheidender. Ihr Hauptvertreter Johann Salomo Semler sah die Bibel bereits im modernen Sinne als historisch gewachsene Sammlung von Schriften, die sich aus dem kirchlichen Sondierungsprozess herauskristallisierte. Er machte im Neuen Testament verschiedene Lehrtraditionen aus und konnte so einen freiheitlich-paulinischen von einem am Gesetz orientierten judenchristlichen Überlieferungsstrang unterscheiden. Semler dachte über die Zeitbedingtheit der biblischen Sprache und Vorstellungswelt nach und durchbrach so das altprotestantische Schriftverständnis.Die Neologie insgesamt verwahrte sich gegen die Vorstellung von der göttlichen Herkunft des Alten und Neuen Testaments, die Heilige Schrift wurde zum historischen Dokument: Dogmen konnten wegen ihrer entstehungsgeschichtlichen Bedingtheit keine absolute Geltung haben, und die Autorität der Kirchenväter war für die Bewertung einer Position nicht länger ausschlaggebend, ihre Widersacher - früher einfach verketzert - wurden endlich in ihrem Eigenwert und ihrer Originalität wahrgenommen.David Friedrich Strauß verhalf diesen Ansätzen historisch-kritischer Exegese endgültig zum Durchbruch. Er suchte in seinem zweibändigen Erstlingswerk von 1835 »Das Leben Jesu, kritisch betrachtet« methodisch exakt nachzuweisen, dass die meisten neutestamentlichen Aussagen über Jesus mythischen Ursprungs seien, das heißt Erzählungen, die ihm von den Gemeinden zugeschrieben worden seien. Jesus selbst sei ein einfacher jüdischer Weisheitslehrer gewesen, dessen Jünger ihm auch nach seinem Scheitern die Treue gehalten hätten. Die Aussagen des Neuen Testaments über die Gottheit Jesu bezögen sich nicht auf Jesus allein, sondern seien auf die ganze Menschheit übertragbar. Obwohl Strauß mit seinem Werk die biblische Exegese auf lange Sicht entscheidend beeinflussen konnte, war er angesichts der heftigen Reaktionen aus allen Lagern gezwungen, sich aus der öffentlichen Diskussion zurückzuziehen.Die Leben-Jesu-Forschung, die daraus erwuchs und überwiegend von Protestanten vorangetrieben wurde, hoffte anfangs, über eine exakte Biographie zum historisch echten Jesus vorzudringen, der vom Christus des Glaubens, dem Resultat der Gemeindeüberlieferungen, unterschieden werden könne. Das Forschungsergebnis von Strauß, dass das Johannesevangelium wegen seiner theologischen Intentionen als historisch unzuverlässig eingestuft werden muss, bestimmte maßgeblich die weitere Entwicklung der biblischen Quellenforschung. Auf der Grundlage der Arbeiten des Germanisten und Philologen Karl Lachmann entwickelten 1838 Christian Hermann Weiße und Christian Gottlob Wilke die Zweiquellentheorie des Neuen Testaments. Nach dieser heute allgemein verbreiteten Theorie speisen sich die Evangelien des Matthäus und Lukas in der Hauptsache aus dem älteren Markusevangelium und einer Redenquelle mit vornehmlich pointierten Sätzen und Gleichnissen Jesu, die man »Q« nennt. Man erstellte Synopsen, die bis heute die zentralen Hilfsmitteln der Exegese geblieben sind; in ihnen werden die Parallelstellen der Evangelien einander gegenübergestellt, sodass Rückschlüsse auf die jeweils ältesten Fassungen und die redaktionelle Bearbeitung der Texte gezogen werden können.Weitere Unterstützung erhielt diese aufgeklärte Forschungsrichtung durch die religionsgeschichtliche Schule, die gegen Ausgang des 19. Jahrhunderts in Göttingen begründet wurde. Studien zur neutestamentlichen Zeitgeschichte führten zu einer heftigen Kritik am herrschenden Jesusbild: Man konnte darlegen, dass Jesus nur auf dem Hintergrund der damaligen jüdischen Endzeitvorstellungen, von denen er ganz eingenommen war, verstanden werden kann. An den Ergebnissen der religionsgeschichtlichen Schule, die vor allem auch das Alte Testament analysierte, entzündete sich 1902 auch der »Bibel-Babel-Streit«, in dem die Abhängigkeit der alttestamentlichen Schöpfungs- und Gottesvorstellungen von babylonischen Vorlagen zum Streitpunkt wurde. Angesichts der Erforschung der kulturellen Einbettung der biblischen Zeugnisse steht seither die Frage nach dem Besonderen der Bibel als Offenbarungsbuch im Raum und fordert zu einer Neudefinition des Offenbarungsbegriffs heraus.Sehr vereinzelt unternahm man auch Versuche, Jesus überhaupt nicht mehr als historische Person, sondern ausschließlich mythisch, als eine Art romanhafte Figur der Urkirche, zu verstehen. Folgenreicher für die Rezeption der Leben-Jesu-Forschung erwiesen sich populärwissenschaftliche Darstellungen des historischen Jesus wie das 1863 erschienene »La vie de Jésus« (»Das Leben Jesu«) Ernest Renans. Renan vereinfachte hier auf methodisch-zweifelhafte Weise die Ergebnisse der Forschung und entwarf in einer romantisch verklärenden Schilderung das Leben Jesu als eine folgerichtige Entwicklung. Daraufhin entstanden vor allem im katholischen Raum eine Reihe historisierender, pastoral motivierter Leben-Jesu-Bücher.Einen relativen Abschluss erreichten die Diskussionen um den historischen Gehalt der Bibel mit Albert Schweitzers Geschichte der Leben-Jesu-Forschung »Von Reimarus zu Wrede«, die 1906 die Aussichtslosigkeit des Vorhabens klarstellte, eine historisch exakte Jesus-Biographie entwerfen zu können. Statt der historischen Rekonstruktion müsse die Nachfolge Jesu im Mittelpunkt der theologischen Forschuung stehen. Das Neue Testament vermittle einen Eindruck von der Denkweise Jesu und seinem Anliegen, dem eine größere Bedeutung zukomme als den historischen Begebenheiten im Einzelnen. Überdies sind für Schweitzer die von der Forschung unternommenen Versuche, Verständnisprobleme mit schwierigen neutestamentlichen Textpassagen einzuebnen, ein falscher Ansatz und zum Scheitern verurteilt, denn gerade die Fremdartigkeit kann durchaus ein mögliches Kriterium für die Echtheit der Aussagen darstellen.Dr. Ulrich RudnickDülmen, Richard van: Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit, Band 3: Religion, Magie, Aufklärung. 16.—18. Jahrhundert. München 1994.Geschichte des Christentums, Band 3: Krumwiede, Hans-Walter: Neuzeit. 17.—20. Jahrhundert. Stuttgart u. a. 21987.Die Geschichte des Christentums. Religion, Politik, Kultur, herausgegeben von Jean-Marie Mayeur u. a. Deutsche Ausgabe herausgegeben von Norbert Brox. Band 11: Liberalismus, Industrialisierung, Expansion Europas (1830—1914). Aus dem Französischen. Freiburg im Breisgau u. a. 1997.Moeller, Bernd: Geschichte des Christentums in Grundzügen. Göttingen 61996.
Universal-Lexikon. 2012.